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Samstag 22. März 2014
Unser Standort: Vor Anker in der Lagune des Puluwat Atolls, Chuuk State, Mikronesien
Sonnenaufgang war als Abfahrtszeit für den Kanuausflug vereinbart worden. Das heißt ziemlich früh, sehr früh sogar aufstehen. Noch völlig schlaftrunken erfolgt als erstes der Blick zum Himmel und zum Windmesser. Das gibt es doch gar nicht, so viel Pech auf einmal kann man doch nicht haben. Keine Sterne sind zu sehen, nur dicke schwarze Wolken machen sich breit so weit das Auge reicht. Und der Wind ist über Nacht total gefallen und kommt jetzt aus Südost! Genau die Richtung, in der die Uranie Bank liegt, auf der wir Fischen wollen. Der Mut schwindet gegen Null, denn Iber und Tobias hatten schon verlauten lassen, dass man bei Südost nicht rausgehe.
Doch die Hoffnung stirbt zuletzt, Volker packt seine sieben Sachen ins Dinghi und motort im ersten Büchsenlicht zum großen Kanuhaus. Keiner da. Doch da, plötzlich, schleicht Rikki aus dem Gebüsch. Der Rest der Crew sei auf der anderen Seite der Halbinsel beim anderen Kanuhaus. Und doch, es sehe gut aus, dass wir heute rauskommen. Also nichts wie rüber und das tun, was man nirgends so gut lernt wie im Pazifik: warten. Denn Iber lässt sich heute besonders viel Zeit bis er endlich am Kanuhaus erscheint. Es ist bestimmt schon acht Uhr bis sich endlich alle, die heute mit zum Fischen rausfahren wollen (die Crew) und die beiden Kapitäne Iber und Tobias im Kanuhaus versammelt haben. Ich sitze mitten unter der Crew und lausche den Ansprachen der Kapitäne. Offenbar geht es um die Verteilung der Crew auf die beiden Kanus sowie ein paar Segel- und Angelanweisungen. Ich werde nun doch nicht zu Tobias‘, sondern zu Ibers Kanu eingeteilt. Mir soll’s recht sein, weil ich mit Iber einen wirklich guten Draht habe.
Ohne viel Palaver geht’s dann los. Jeder weiß, was er zu tun oder wo er anzupacken hat. Als erstes müssen die beiden Kanus vom Land ins Wasser geschoben werden. Die Strecke von zwanzig oder dreißig Metern ist mit grünen Blattansätzen von Palmen sowie den braunen Palmwedeln ausgelegt. Das sind die beiden natürlichen Materialien mit dem geringsten Reibungskoeffizienten auf der Insel. Dennoch müssen sich 18 Mann volle Pulle ins Zeug legen, um die Kanus, die wohl knapp eine Tome wiegen werden, ins Wasser zu befördern. Und das ist noch die einfache Strecke, denn es geht leicht bergab. Bei unserer Rückkehr wird das ganz anders aussehen. Da müssen die Kanus die Böschung hinauf gewuchtet werden und werden zu allem Überfluss auch noch mit Wasser vollgesogen sein. Aber da machen wir uns Gedanken drüber, wenn wir wieder zurück sind.
Nachdem beide Kanus im flachen Wasser schwimmen, verteilen sich die Crews und die Segel werden gebracht. Ich bekomme meinen Platz auf der Leeplattform zugewiesen. „Wo der Navigator sitzt“, scherzen Iber und die Crew. Aber natürlich ist das der Platz für Kinder und Frauen – und Palangis. Der Navigator sitzt auf dem Ausleger. Ist aber auch recht, schließlich habe ich keine Ahnung, wie man diese grandiosen Kanus segelt. Dann kommt das Kommando, sich flach auf der Leeplattform hinzulegen, da das Segel gesetzt wird. Der Baum mit einem riesigen, selbstgemachten Block aus Hartholz schießt nur Zentimeter über dem Gesicht durch die Gegend. Ok, noch flacher machen! Der Mast wird dreißig oder vierzig Grad nach vorne gelegt, der Segelhals, wo sich Gaff und Baum treffen, kommt in die Vertiefung am Bug, die Schot wird dichtgeholt und das Kanu setzt sich in Bewegung. Die Brise ist nach wie vor sehr leicht, vielleicht 6 oder 7 Knoten. Doch das reicht dem Kanu mit voller Besatzung, um lautlos durch die Lagune Richtung Pass zu gleiten. Unfassbar! Es hat doch noch geklappt!!
Draußen wartet eine recht ruppige See auf uns und mir krampft sich sofort der Magen zusammen. War das wirklich eine gute Idee, schießt es mir durch den Kopf. Letzten Samstag kam Ibers Kanu erst kurz vor Sonnenuntergang zurück. Ich bin jetzt schon seekrank. Und wie ich den ganzen Tag im Schneidersitz auf der harten Leeplattform mit einer kantigen Planke im Kreuz überstehen soll, ist mir auch schleierhaft. Aber jetzt gibt’s kein Zurück. Jetzt muss ich das Ganze irgendwie durchstehen und auch noch fröhlich dabei aussehen. Denn natürlich sind alle Augen, wenn auch nicht direkt, auf mich gerichtet. Wie verhalte ich mich, wie stelle ich mich mit der Angel an – und wie werde ich wohl aufs Klo gehen, wenn wir länger draußen sind?!?
Während ich so an der Klugheit meines Wunsches zum mitsegeln zweifele, analysiert Iber die Wellen, den Wind und die Strömung und diskutiert mit David, der ein erfahrener alter Navigator ist und schon von Puluwat nach Pohnpei gesegelt ist. Was für eine Leistung! Für die 750sm gegen den vorherrschenden Wind benötigte er mit seiner Crew 14 Tage!! Auf einem Kanu ohne jeglichen Wetterschutz, ohne Kochmöglichkeit, ohne irgendetwas! So langsam beginne ich zu vermuten, dass die wahre Leistung der hiesigen Navigatoren gar nicht darin besteht, eine Insel in der Wasserwüste des Pazifiks zu finden, sondern vielmehr darin, die Moral der Crew irgendwie hochzuhalten.
Dann ist der Kurs gefunden, das Kanu holpert über die steilen Wellen und die Angeln gehen raus. Iber erklärt, dass sie heute eine bestimmte Makrelenart sowie Rainbow Runner fangen wollen. Aha, man fischt nicht nur opportunistisch, sondern hat auch noch bestimmte Wünsche. Sieben Handleinen werden ausgebracht und Roland drückt auch mir eine in die Hand. Für die bin ab sofort ich verantwortlich. Hoffentlich beißt schnell ein Fisch, dass ich ein wenig von meiner immer stärker werdenden Seekrankheit abgelenkt werde. Mist, damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet.
Die Kanus haben keinerlei GPS oder so an Bord. Nur ein Steuerkompass, den sie aus einem havarierten japanischen Longliner ausgebaut haben, geht mit auf See. Drauf schauen tut aber niemand. Navigiert wird heute anhand der Uranie Bank! Die Jungs hier lesen die Wasserfarben so gut wie wir daheim eine Straßenkarte. Und sie kennen jeden Bommie, jede Einbuchtung der riesigen Bank so gut, wie wir zuhause jede Gasse in unserem Wohnviertel. Selbst mit einigen Jahren „Augapfelnavigation“ unter dem Gürtel und meiner polarisierenden Sonnenbrille tue ich mich schwer zu erkennen, was mir Iber erklärt. Links von uns ist das Wasser etwas heller blau gefärbt, das ist der Sand, der auf der Bank selbst liegt. Daneben liegt ein Streifen Wasser, der einen Hauch bräunlich/grünlich ist. Das ist die Riffkante des versunkenen Atolls, auf der die Korallen wachsen. Und wir segeln im Dunkelblauen, also über dem Abgrund und immer der Riffkante entlang. Theoretisch ist das alles klar. Nur in der Praxis ist eine Abschätzung der Wasserfarben bei der heutigen Bewölkung und einer Wassertiefe von vierzig Metern nicht ganz so einfach.
Ebenfalls beim Steuern helfen die Wellen. Je nachdem in welchem Winkel sie auf das Kanu treffen, wissen die Männer ob sie geradeaus segeln. Zudem verhalten sich die Wellen anders auf der Bank und auch das können die Steuerleute genau lesen, um ihren Kurs um 10 Meter nach links oder rechts zu ändern. Nur die Fische wollen nicht so recht beißen und dementsprechend ist die Stimmung an Bord eher gedämpft. Um nicht zu kotzen, beschäftige ich mich damit, Tobias Kanu zu filmen und zu fotografieren, das wir gerade eingeholt haben. Herr, lass diesen Tag schnell enden!
Doch dann kommt plötzlich Bewegung in die Bude. Meine Angelleine ruckt, ein Fisch ist dran! Iber gibt Anweisungen, wie schnell ich sie einholen soll. Nicht zu schnell, sonst reißt den empfindlichen Rainbow Runners der Haken aus dem Mund. Und nicht zu langsam, sonst schnappt sich ein Hai den Fisch am Haken. Kaum hat er das erklärt, taucht auch schon ein massiger brauner Körper hinter dem Fisch an der Angel auf. Immer näher schiebt er sich an „meinen“ Fisch, immer schneller versuche ich die Leine Hand über Hand einzuholen. Die Jungs johlen und gröhlen und feuern mich an. Dann macht der Hai einen Satz nach vorn, mir wird die Angelleine durch die Finger gezogen, schneidet sich tief in kleinen Finger und Zeigefinger ein und der Rainbow Runner ist fort. Die Seekrankheit allerdings auch. Fortgeblasen vom Adrenalin, das durch den Körper schießt und von der allgemeinen Aufregung an Bord, denn nun gehen die Fische überall an die Angeln. Jetzt wird geschrien und gelacht, gefrotzelt und gefoppt. Nur der Steuermann und der Mann an der Schot bleiben konzentriert und halten das Kanu immer in der gleichen Entfernung zur Riffkante.
Es ist absolut faszinierend, wie ausbalanciert diese Kanus sind. Um hart am Wind zu segeln, wird überhaupt kein Steuer benötigt. Es wird nur die Schot dicht genommen und das Kanu fährt automatisch maximal hoch am Wind. Lediglich wenn sich das Boot in einer Welle feststampft oder eine leichte Böe kommt, wird die Schot ein wenig gefiert, das Kanu fällt ab und nimmt wieder Fahrt auf. Dann einfach die Schot langsam dichter nehmen und das Kanu geht wieder an die Windkante. Dabei wird die Schot nie, absolut niemals belegt, sondern immer aus der Hand gefahren. Dementsprechend wird der Mann an der Schot etwa jede Stunde abgelöst.
Das Ruder wird nur benötigt, um abzufallen oder eine Raumschotskurs zu laufen. Dazu wird zunächst das Segel „gerefft“, indem der Baum mit einer Leine weit nach oben gezogen wird. Das ist wohl nötig, um das Drehmoment eines weit gefierten Segels zu reduzieren. Dann drückt der Steuermann das Ruder mit dem Fuß ins Wasser. Das Ruder selbst besteht aus einer langen Planke, die lediglich am oberen Ende mit einer dicken Leine am Kanu befestigt ist. In der Mitte liegt sie an einem Dorn am Kanurumpf auf und der Druck der Abdrift des Kanus hält das Ruder in Position. Gesteuert wird, indem das Ruder mit dem Fuß tiefer ins Wasser gedrückt wird. Reicht das nicht, wird das Ruder noch angestellt. Das funktioniert mittels eines Astes, der am Ruder festgelascht ist. In Summe sieht das Rudergehen wirklich wie ein Kinderspiel aus. In Wahrheit wechseln sich am Ruder aber nur die erfahrensten unter der Besatzung ab.
Inzwischen ist auch klar, dass Iber heute einen besonders langen und intensiven Ausflug auf dem Kanu geplant hat. Denn immer weiter nach Südost segeln wir die Uranie Bank entlang. Dem Sonnenstand nach zu urteilen, ist es jetzt schon nach Mittag, und Puluwat ist seit geraumer Zeit hinter dem Horizont verschwunden. Damit müssten wir bereits mindestens zehn oder zwölf Seemeilen gesegelt sein. Iber will aber noch weiter bis ans Ende der Bank. Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, wären wir dann knapp 19 Seemeilen von Puluwat entfernt. Die ganze Strecke müssen wir dann wieder zurück und so nebenbei noch die Insel wiederfinden. Und ich habe inzwischen Krämpfe in den Beinen und die Blase drückt gewaltig. Noch hat sich keiner der Jungs zum Wasserlassen aufgemacht. Wetten, dass sie alle drauf warten, dass ich als erster muss…
Bild des Tages:
Tobias hat sein Kanu gewendet und sucht sein Angelglück näher an Puluwat. Unser Kanu mit Iber am Ruder steuert hingegen weiter Südost, um am Ende der Bank nach Fisch zu suchen. Dabei ist das Wetter alles andere als einladend. Die ITCZ stattet uns einen Besuch ab. Immer mehr und immer heftigere Squalls gehen über uns drüber. Und wir segeln mit einem hölzernen Kanu auf der hohen See rum. Besser nicht genau drüber nachdenken…